„Nee nee, das ist zu laut. Wir müssen schauen, dass wir das Holz nicht plattmachen.“ Simon rückt seine dunkel umrahmte Brille zurück, rutscht auf seinem Stuhl nach vorn, streckt seinen Rücken durch, hebt den Arm und zählt ein: „Fünf, sechs, sieben, acht.“ Die Töne von einem Dutzend Trompeten füllen den Raum – mit dem 90er-Jahre-Chartstürmer „Narcotic“ der Rockband Liquido. Vor einigen Notenständern liegt ein Heft mit Kaiserin Sissi auf dem Titelblatt. Der gleichnamige Marsch ist als Nächstes dran. Herzlich willkommen in der Welt mitreißender musikalischer Gegensätze. Herzlich willkommen beim Probenwochenende der Wacken Firefighters in der JUGENDHERBERGE HEIDE!
Die Wacken Firefighters – sie haben längst Kultstatus. Früher tingelte der Musikzug der Freiwilligen Dorffeuerwehr von Goldener Hochzeit zu Schützenfest und zurück. Heute ist die Kapelle ein gefragter Musik-Act auf unterschiedlichsten Events in ganz Deutschland. Der Grund dafür: Im Jahr 2000 spielten sie erstmals auf dem weltweit größten Heavy-Metal-Festival, dem Wacken Open Air. Was ursprünglich als Experiment von Festival-Organisator Holger Hübner gedacht war, ist inzwischen ein fester Programmpunkt geworden.
Dass Tausende Metalfans zu Blasmusik ausgelassen ihre langen Mähnen kreisen lassen würden, damit hatte der Wackener Musikzug damals am allerwenigsten gerechnet. Saxophonistin Birge, die seit 31 Jahren dabei ist, erinnert sich: „Beim ersten Auftritt hatten wir ganz schön Herzklopfen. Als wir in unseren dunklen Uniformen durch die Menge zur Beergarden Stage marschierten, machten die Festivalbesucher uns einen kleinen Weg frei – das war schon besonders. Wir hatten keine Ahnung, was passieren würde, wenn wir anfangen zu spielen.“
Heute schlägt das Herz bei Birge und den anderen nur noch aus Begeisterung. Die Mitglieder kommen übrigens schon lange nicht mehr nur aus Wacken. Publikumspolonaise zu Gassenhauern wie „Die Fischerin vom Bodensee“ und Metal-Moshpits zum Volksmusikhit „Böhmischer Traum“ sind beim wichtigsten Metal-Festival genauso normal geworden wie fliegende Bierbecher oder das Anstehen an den Toiletten. Sogar auf der Main Stage haben die Wacken Firefighters schon gespielt – beim Abschlusskonzert um halb zwei nachts, gemeinsam mit Onkel Tom. Kurz gesagt: Aus dem Festival-Line-up sind sie nicht mehr wegzudenken.
Und auch für die Wacken Firefighters gibt es etwas, das nicht mehr wegzudenken ist: das jährliche Probenwochenende in der Jugendherberge Heide. Immer im Frühjahr kommen dort alle Musiker*innen zusammen, um ihr Repertoire für das Jahr – und besonders fürs Pre-Opening des Wacken Open Air – vorzubereiten. Tiefes Blech, hohes Blech, Holzregister: Alle Register teilen sich tagsüber auf. Gemeinsam mit erfahrenen Gastdozent*innen belegen sie die sechs Probenräume der Jugendherberge Heide und üben, was das Zeug hält – vor allem die Überraschungssongs. Denn jedes Jahr sucht sich Orchesterleiter Stefan Bumann besondere Perlen aus der Pop- und Rockgeschichte aus, damit das Publikum auch beim nächsten Mal wieder richtig mitgeht.
Dass die Wacken Firefighters – aber auch viele andere Musizierende – immer wieder gern in die JUGENDHERBERGE HEIDE zurückkehren, liegt vor allem an Cathrin und Ralf Piel, den Herbergseltern. (Seit Oktober 2022 ist Hanna Wittmaack die neue Herbergsleiterin.) Sie führen den DJH-Standort in Heide nicht nur mit Humor und Begeisterung für ihre Arbeit, sondern auch mit einem großen Herz für Musik. „Beim Sport spielt man gegeneinander, aber beim Musizieren miteinander“, fasst Ralf seine Begeisterung für Musikgruppen zusammen. Er und seine Frau hören nicht nur gern zu, sondern musizieren auch selbst. Beide singen im Chor und spielen Posaune. Auch ihre beiden Kinder probieren sich musikalisch aus – ihr 14-jähriger Sohn mischt sich bei Probenwochenenden sogar unter Gästegruppen, die ihn mitspielen lassen.
Dementsprechend leidenschaftlich und tatkräftig begleiteten Cathrin und Ralf den letzten Umbau der Jugendherberge in den Jahren 2017/2018. Denn das Ziel entsprach genau ihrem Geschmack: „Heide sollte der perfekte Standort für Chöre und Musikgruppen aller Art werden“, erklärt Herbergsleiterin Cathrin. „Für uns gab es bei Planung und Umsetzung eine zentrale Frage: Was braucht ein Orchesterleiter?“, sagt sie. „Und wir haben alles getan, damit diese Bedürfnisse in der Raumgestaltung und in unseren Abläufen berücksichtigt werden.“
Vom Erfolg dieser Mission kann ich mich beim Probenwochenende der Wacken Firefighters selbst überzeugen. Das Erste, was mir auffällt: Es ist erstaunlich ruhig. Im Rezeptionsbereich und auf den Fluren höre ich – nichts. Moment mal, denke ich. Proben hier nicht gerade Blasmusiker lautstark Popsongs? Warum höre ich davon nichts? Die Antwort ist simpel: Schallschutztüren und -fenster. Und tatsächlich: Beides funktioniert erstaunlich gut. Die ersten Töne höre ich erst, als ich auf den Fluren unterwegs bin, wo sich die Probenräume befinden.
Es sind sechs an der Zahl, zusätzlich gibt es zwei Clubräume für Einzelproben. Außerdem vor Ort: zwei Klaviere, ein Digitalpiano, Musikanlagen, Dirigentenpolster sowie viele gepolsterte Stühle ohne Armlehnen. „Für Musikgruppen besonders geeignet“ – diese Einschätzung trifft auf die Jugendherberge Heide voll und ganz zu.
Wie sehr das Ehepaar Piel und ihr Team die besondere Atmosphäre genießen, die durch Big Bands, Musicalgruppen, Posaunenchöre oder Bläserklassen entsteht – und im Sommer durch Fans des Wacken Open Air ergänzt wird – zeigen auch kleine Details. Die Entfernung nach Wacken beträgt etwa 40 Kilometer; daher gibt es regelmäßig ein spezielles Angebot mit Übernachtung und Festival-Shuttle. Passend dazu wurden erst kürzlich einige Zimmer im Stil des Wacken Open Air gestaltet. Ein weiteres Zeichen dafür, wie viel Herzblut hier in jedes Detail fließt.
Wacken zieht alle in seinen Bann – sogar Mädchen, die sonst eher naturverbunden mit der Waldjugend in ruhigeren Gegenden unterwegs sind. Zum Beispiel Saxophonistin Anna (15 Jahre alt) und Trompetenspielerin Lilli (16 Jahre alt), mit denen ich beim Abendessen im Speiseraum der Jugendherberge Heide zusammensitze. 2018, so erzählen sie mir, waren sie zum ersten Mal mit den Wacken Firefighters auf dem Festival dabei.
Während sie davon berichten, habe ich das Gefühl, als wäre das Erlebnis erst ein paar Tage her – so begeistert und lebendig klingen ihre Stimmen. „Das war der Hammer, echt!“, sagt Anna immer wieder. „Nicht nur das Festival selbst, sondern auch das Drumherum. Was da im Dorf los ist – Wahnsinn! Ich freu mich schon total auf dieses Jahr.“ Sowohl an ihrem als auch am Handgelenk ihrer Freundin Lilli baumeln noch die Festivalbändchen vom Open Air 2018. „Das ist so cool, wenn du einfach an den Schlangen vorbeigehen kannst, weil du das Bändchen hast“, erklärt Lilli. Beide grinsen übers ganze Gesicht. Anna holt ihr Handy raus und zeigt mir ein Video vom Vorjahr. „Ich meine, guck dir das an“, sagt sie strahlend. „Das ist echt Wahnsinn, oder?“
„Das ist echt der Wahnsinn“, denke auch ich, als ich eine Stunde später im Hauptproberaum der Jugendherberge Heide stehe und bei der Gesamtprobe der Wacken Firefighters Mäuschen spielen darf. Der ganze Raum ist voll mit Notenständern, Stühlen und Menschen mit Musikinstrumenten. Stefan Bumann hebt den Dirigentenstab – und plötzlich verwandelt sich der vorher ruhige Raum in ein Meer aus kraftvollen Tönen. Ihr Zusammenspiel sorgt bei mir einerseits für Gänsehaut, andererseits auch für ein schelmisches Lächeln. Wer – so wie ich – Musik meist nur über Kopfhörer oder Küchenradio hört, der kann sich der emotionalen Wirkung eines Live-Orchesters kaum entziehen. Dafür ist der Klang einfach zu mächtig, zu faszinierend und zu mitreißend. Erst recht, wenn es sich um Blasinstrumente handelt, die kein klassisches Volkslied spielen, sondern ein Medley vom King of Pop. Dann kann ich mich nicht dagegen wehren: Ich muss lächeln – und bekomme verdammt gute Laune.