Es ist Sonntagmorgen. Ich stehe auf der Tartanbahn des Stadions vom TSV Büsum und beobachte das sportliche Geschehen um mich herum. Heute geht´s hier um was – nachdem gestern nur trainiert wurde, werden heute Zeiten gestoppt und Starts geübt. Gerade war Dennis dran: 400 Meter lang hat er alles gegeben. Tempo gemacht. Sich windschnittig in die Kurve gelegt. Am Ende zeigte die Uhr 1,30 Minuten an. Seine Bestzeit hat er damit um 19 Sekunden verfehlt. Also noch mal an den Startpunkt, Hände an die Räder – und los.

Dennis Schmitz ist der älteste Teilnehmer beim Rennrollstuhl-Training, das dieses Wochenende für Kinder und Jugendliche stattfindet. Der 18-Jährige fährt im internationalen Rollstuhlrennsport inzwischen ganz vorne mit, 2016 war er sogar bei den Paralympischen Spielen in Rio mit dabei. Ein sportlicher Erfolg, der hier in Büsum vor neun Jahren seinen Ursprung hatte. Ein sportlicher Erfolg, der das Selbstwertgefühl und die Gesundheit des körperlich und geistig behinderten Jungen enorm gefördert hat. Ein sportlicher Erfolg, der ohne den BSC Westküste, einem Sportclub für Menschen mit Behinderung, vermutlich niemals entstanden wäre.

2003 ist der Verein auf Initiative einiger Eltern ins Leben gerufen worden, um mit dem Rennrollstuhlsport einen weiteren Leistungssport für Kinder und Jugendliche mit Behinderung zu etablieren. Als Vater bei der Gründung mit dabei war Peter Seestädt. Inzwischen ist sein Sohn über 20 Jahre alt und reist trotz Behinderung eigenständig um die Welt, dem Verein ist Peter Seestädt trotzdem treu geblieben. Er organisiert die Treffen in Büsum, die zweimal jährlich stattfinden.


Jugendherberge Büsum auf inklusive Gruppen vorbereitet

Ein wichtiger Partner dabei: die JUGENDHERBERGE BÜSUM. Sie ist auf inklusive Gästegruppen gut vorbereitet und kann die am Training teilnehmenden Familien, deren Kinder auf einen Rollstuhl angewiesen sind, unterbringen. Zwar sind nur drei der insgesamt 54 Zimmer der Jugendherberge offiziell als rollstuhlgerecht ausgewiesen, allerdings sind die Schnitte der normalen Zimmer und der zugehörigen Badezimmer häufig großzügig genug, dass sich Kinder in Rollstühlen auch dort gut bewegen können. Die genauen Maße von Türen und Räumen hat das Team Jugendherberge Büsum deshalb auf ihrer Website notiert: Ausstattung in Büsum für Rollstuhlfahrer.

Der barrierefreie Zugang von außen ins Erdgeschoss und die dort untergebrachten Seminar- und Speiseräume seien ebenfalls ein Vorteil, berichtet mir Michael Spiegel, der die Jugendherberge Büsum seit 22 Jahren leitet. „Nicht zuletzt weil Inklusion auch in Schulen flächendeckend angekommen ist und wir bei Klassenfahrten häufig Schüler*innen mit Beeinträchtigung beherbergen, achten wir auf entsprechende bauliche Voraussetzungen“, berichtet er aus dem DJH-Alltag.

„Rollstuhl ist ja auch nicht gleich Rollstuhl“, so der Herbergsleiter weiter. „Viele haben die klassische Variante im Kopf, aber wir möchten auch für Patienten im Wachkoma, die mit Pflegebett unterwegs sind, ein passender Ort sein. Eine weitere Herausforderung, der wir uns stellen, ist der größer gewordene Bedarf an Einzelzimmern. Zusätzlich zu den regulären Begleiter*innen reisen bei Inklusionsklassen ja auch Betreuer*innen mit, die ein Zimmer benötigen.“


Rennrollstuhlfahren – ein unbekannter Sport

Zurück auf der Tartanbahn. Während die Kinder und Jugendliche eine Runde nach der nächsten absolvieren – die Fortgeschrittenen auf der Innenbahn – , werfen nicht nur Peter Seestädt und die begleitenden Eltern interessierte Blicke auf die Gruppe. Mit dabei an diesem Wochenende sind, wie auch in den Vorjahren, der ehemalige Spitzensportler und Goldmedaillen-Gewinner Heinrich „Heini“ Körberle und seine Frau Gudrun. Seit Abschluss von Heinis Schnellfahr-Karriere widmet sich das Ehepaar aus der Region Heidelberg der Nachwuchsförderung. Und der Sichtbarkeit des Rollstuhlschnellfahrens.

„Dass Rollstuhlfahrer Basketball spielen oder Mono-Ski fahren, ist weithin bekannt. Dass man im Rollstuhl auch leichtathletische Disziplinen absolvieren kann hingegen nicht. Auch unter Rollstuhlfahrer*innen oft nicht“, berichtet mir Gudrun Körberle. „Es gibt neben Büsum nur einen anderen Ort, wo man ein professionelles Schnuppertraining absolvieren kann: die Stadt Köln.“

Deshalb sind an diesem Wochenende auch wieder einige Familien dabei, die sich schon aus den Vorjahren kennen. Es kommen aber auch immer neue Teilnehmer*innen dazu. Die fünfjährige Nomeni ist dieses Mal eins der neuen Gesichter. Zusammen mit ihrer zwölfjährigen Schwester und ihren Eltern ist sie nach Büsum gekommen, um beim Schnellfahr-Lehrgang dazuzulernen. Im normalen Rollstuhl an Wettbewerben teilzunehmen, ist für sie bereits normal, auch im Mono-Ski hat sie sich längst ausprobiert. Eine neue Herausforderung soll also her.


Rennrollstuhlfahren – eine Frage der Technik

Der Trainingstag am Tag zuvor, das allererste Mal im Rennrollstuhl für Nomine überhaupt, er verlangte ihrem Durchhaltevermügen dann allerdings so einiges ab. Voller Euphorie, so erzählte mir ihr Vater am Morgen, sei sie aufgestanden und schneller angezogen gewesen als man es an anderen Tagen von ihr kennt. Und auch ich sah der Fünfjährigen die Vorfreude an, als sie dann endlich im Rennrollstuhl saß. Nach der dritten Runde jedoch war sie vollkommen erschöpft und den Tränen nahe. „Es ist so anstrengend“, wiederholt sie immer wieder.

Doch nur wenige Stunden später sah ich sie schon wieder strahlen. Eine Stütze am Vormittag war der siebenjährige Xaver für sie geworden, den Gudrun Ströbele kurzerhand zu ihrem „personal trainer“ erkoren hatte. Ein schöne Bestätigung für Xaver, der bereits seit drei Jahren Rennrollstuhl fährt, und eine schöne Motivation für Nomine.

Xaver, aber auch alle anderen, geben Nomine die notwendigen Hinweise, wie sie mit weniger Kraftanstrengung noch schneller vorankommt. Alles eine Frage der Technik. Vor allem das Vorbeugen im Sitz, das für mich als Unerfahrene unglaublich anstrengend aussieht, entscheidet über die Geschwindigkeit. Ein zweiter wichtiger Punkt: der richtige Einsatz der Hände. Die Profis schaffen es, mit den in feste Handschuhe gehüllten Händen die Räder mit einer ganzen Umdrehung ins schnelle Rollen zu bringen. Arme anwinkeln, Hand auf 12 Uhr – und dann mit viel Kraft das Rad antreiben. Kraftübungen für die Arme und den Oberkörper sind also unbedingt zu empfehlen, wenn man sich für den Sport interessiert. Dennis und auch andere Teilnehmer des Kurses gehen regelmäßig ins Fitnessstudio.


Rennrollstuhl-Training für Kinder – auch für Angehörige wertvoll

Die vorletzte Stunde des Wochenendes ist angebrochen. Ich höre, wie sich die Eltern im Hintergrund über viele Alltagsdinge austauschen, die im Leben mit einem behinderten Kind relevant sind. Wie hat es geklappt, tatsächlich die Reinigungshilfe zu bekommen, die einem zusteht? Welche Krankenkasse ist stets zur Stelle, wenn eine neue orthopädische Ausstattung benötigt wird? Welche Jugendherbergen in Deutschland können noch mit Barrierefreiheit punkten? (Freiburg, Düsseldorf und Lüneburg waren hier übrigens die Antworten einer reiseerfahrenen Familie) Das Trainings-Wochenende, es ist nicht nur für die Kinder ein Treffen mit Gleichgesinnten. Auch den Angehörigen tut das Beisammensein mit Menschen, die in der gleichen Situation wie sie selbst sind, gut.

Die Sportler*innen üben derweil das Starten beim 100 Meter Sprint. Die Kleinen konzentrieren sich auf die richtige Technik, überhaupt flott loszurollen. Die Fortgeschrittenen nehmen hingegen wieder ihre Zeit. Dennis hat das Nachsehen: Jannis kommt deutlich vor ihm durchs Ziel. Ein Problem für ihn? Nein. Er weiß, was er kann. Und vor allem, was er will: Beim anstehenden Wettkampf in der Schweiz 1.500 Meter in 4,20 Minuten schaffen.

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