Mit fünfzehn Strammen Jungen von der kaufmännischen Handelsschule in Altena, an der ich neben der Volkshochschule beschäftigt war, ging's 1911 abermals ins Hessenland. Diesmal auf anderen Wanderwegen und auf andere Veranlassung hin, wenn uns auch immerhin die billigen Ostereier von 1907 noch in guter Erinnerung waren. Ein reicher Großgrundbesitzer hatte uns zu Ostern eingeladen, und das ging so zu:
Auf meinen ersten Aufruf (1910 in der Kölnischen Zeitung) zur Schaffung von Jugendherbergen durchs ganze Reich lief eine Unmenge begeisterter Zuschriften aus dem In-und Ausland bei mir ein. Auch erhebliche Geldspenden folgten, und ich konnte die einfache Ferienherberge mit Strohlagern in meiner Schule zu Altena aus dem Jahre 1907 aufs beste mit regelrechten Betten und auswechselbarer Bettwäsche ausstatten. Auch Einladung für mich und meine Wanderschar zur kostenlosen Einkehr folgten. Am verlockendsten erschien uns der Ruf des Großgrundbesitzers von Heidweiler, ehemals Landrat von Altena, der auf der Denzer-Heide bei Bad Ems ein großes Landgut besaß. Die Einladung war bereits im Vorjahre an uns ergangen, und wir hatten uns den ganzen Winter darauf gefreut. Rund 300 Kilometer Fußmarsch waren in einer Woche zu bewältigen. Meine erprobten wanderstarken Buben haben es ohne Überanstrengungen schaffen können.
Die anfängliche Gegensätzlichkeit in gewissen Bevölkerungsschichten Altenas gegen meine ausgedehnten Jugend-Wanderfahrten war allmählich einer aufrichtigen Mitfreude gewichen. Und so schenkten die Lehrherren meiner Handelsschüler ihnen bereitwilligst zu den Osterferien noch ein paar Feiertage hinzu, so dass wir die Wanderfahrt bereits am Tage vor Gründonnerstag beginnen konnten. Ober Bitten und Verstehen hatte sogar jeder einen blanken "Goldfüchs" für die Reisekasse von ihnen erhalten. ging's doch zum "alten Landrat", dessen man sich gern erinnerte.
Auf wohlbekannten Wanderwegen tippelten wir ins Siegerland, dann aber auf neuen Pfaden durch die hohen Bergwälder der "Kalten Eiche" ins Hessische nach Holzhausen - Herborn - Ruine Greifenstein - Dianaburg Weilburg - Villmar - Runkel - Limburg - Bad Ems Goethepunkt - Denzerheide und weiter nach Nieder-Lahnstein und Kobienz, von wo wir mit einem Rheindampfer nach Köln und mit der Bahn nach Altena zurückfuhren.
Einzelne Begebenheiten - Klotztahrt
Von der erlebnisreichen Wanderfahrt in den aufbrechen den Lenz nur einige wenige Erlebnisse. Zunächst möchte ich darauf hinweisen, dass diese Wanderung an manchen Tagen zur regelrechten "Klotzfahrt" wurde. Die 17- bis 18jährigen Buben waren ungemein kräftige Kerle, die vor 50, 60 und mehr Kilometern Tagesleistung nicht zurückschreckten. Wenn ich auch an sich dem "Klotzen" nicht das Wort reden möchte, so weiß ich doch, dass es durchaus seine Berechtigung haben kann. Kräftige junge Kerle dieses Alters wissen in der Reifung zum Mann oft nicht, wohin sie mit ihrer überschüssigen Jugendkraft hinaus sollen. Da ist eine "Klotztahrt" das Gegebene. Besser als Wirtshauslaufen mit Saufen, Schlägereien und Hurengeschichten mit oft nachfolgenden üblen Krankheiten und lebenslangem Siechtum. Ich war allemal erfreut, wenn meine großen Jungen mich zu einer ausgesprochenen "Klotzerei" aufforderten. Jeder starke Wandersmann weiß um die unsagbar beglückende innere Wanderseligkeit, wenn beim kräftigen Schreiten über Berg und Tal das heiße Blut auf seine eigene Weise in allen Adern zu rauschen und zu singen anhebt. dass man, ohne dass man es weiß und will, gleich Lerche, Drossel, Fink und Star jubilieren und singen muss, und wer wirklich keine Melodien in der Kohle hat, schreit wie der Hirsch im wilden Urwald und schickt seine Jauchzer ins Weite. Bei keiner anderen Leibesübung erfahrt der Mensch eine derart innige und anhaltende Eintauchung in Himmelssicht und Frischluft wie beim Wandern - namentlich bei einer "Klotzfahrt". Unsere Osterfahrt von 1911 mit einer Tagesleistung von 40-45 Kilometer war eine solche Klotzfahrt und darin ein unvergessliches Erlebnis für uns alle. Hinterher erfuhr ich, dass die Jungen, denen ich die Ausarbeitung der Wanderung überlassen hatte, probieren wollten, ob sie ihren "Meester" im Wandern schachmatt setzen könnten. Prächtige Lausbuben und liebe Kameraden, von denen der erste Weltkrieg die Hälfte gefressen hat.
Frostige Tag- und Nachtgleiche
Zu einem seltenen Lichtwunder wurde uns dieser Tag, den wir auf Holzhausen, auf der "Kalten Eiche" erlebten, und wir wussten dann auch, warum diese Berghöhe ihren Namen trägt. Der Metzger des Ortes hatte uns ein Obdach auf seiner Dreschtenne gegeben. Das war eine kalte Nacht. Wir lagen auf einer dünnen Strohschütte und hatten nur unsere Lodenmäntel zum Zudecken, und durch die alten spaltenreichen Scheunentüren pfiff ein beißend kalter Ostwind. Wir waren ganz dicht zum Schlafen zusammengekrochen und schliefen in großer Ermüdung auch schnell ein. Doch schon vor 5 Uhr erwachte ich bocksteif vor Kälte und merkte, dass auch alle Buben wach waren und vor Kälte zitterten. Also raus an die "Frühjahrsluft"! Ein wunderbar klarer Sternhimmel mit dem untergehenden Vollmond empfing uns. Doch war uns das gänzlich schnuppe. Das Thermometer am: Metzgerladen zeigte -7 Grad C. Unsere Hände und Füße waren fast gefühllos geworden, und so machten wir im Windschatten hinter der Scheune einen Kreis und klopften die Hände und Beine warm und hüpften und strampelten und machten Laufschritt auf der Stelle und schlugen die Arme um uns wie Hampelmänner. Nachdem die Füße wieder lebendig waren und der Himmel sich im Osten aufhellte, liefen wir zum Dorf hinaus auf eine Anhöhe und wieder hinab und hinauf, bis der ganze Mensch wieder warm und froh wurde. - Dabei waren unmerklich alle Sterne verschwunden, und nur der dicke Vollmond stand wie ein goldgelbe Eierkuchen am Himmel und neigte sich zum Abschiednehmen. Zu gleicher Zeit erwachte die Sonne aus weißem Bodenliebel überm Bergwald im Osten. Auch so goldfarben und groß wie der Vollmond. Und eine kleine Ureile schauten sich beide wie Spiegelbilder grüßend an. Das große Schöpfungs- und Lichtwunder auf unserm Erdenstern stand vor uns in seiner Urgewalt von Größe und Schönheit. Dort der verblassende und versinkende Mond, der Hüter der eisigkalten Nacht - und hier die aufgehende Licht- und wärmespendende Sonne, die Königin des lichten Tages und Weckerin allen Lebens. Das ist der Sieg des Lichtes mit herzwärmender Liebe über Nachtdunkel und alle Mächte der Finsternis und des Hasses. Österliches Auferstehen aus Winterschlaf und Gräbern. Dieses Erlebnis wurde uns allen zu einer unvergesslichen Morgenfeier, und der beste Dolmetscher dafür war die am eigenen Körper erlebte Erstarrungskälte in der Nacht und das dann nachfolgende beglückende Gefühl der wiederkehrenden Blutwärme und des Lebens.
Schönstes Lahntal zwischen Weilburg und Bad Ems
Im romantisch gelegenen Weilburg, das uns stark an Altena erinnerte, besuchten wir das prächtige Schloss und schliefen mit bester Aufnahme in der dortigen Unteroffiziers-Vorschule (abends warmes Brausebad, reichliches und kräftiges Abendessen und Frühstück - und alles, auch die Unterkunft, völlig kostenlos). Der Ortskommandant, der um unser Kommen durch meine Bitte um Unterkunft wusste, hatte eine Geländeübung für seine jungen Soldaten angesetzt. Unsere Unterkunft war ein anrücken der Feind, für dessen Erspähen und Melden alle mutmaßlichen Aufmarschwege mit Lauf-Staffetten besetzt waren. Die Wanderleistung meiner Buben wurde bestaunt, und ich wurde ins Offizierskasino eingeladen, wo auch mehrere Generalstabsoffiziere aus Berlin zur Revision der Weilburger Unteroffiziersschule anwesend waren. Ich musste ihnen über meine Pläne für das Jugendwandern und für ein zuschaffendes einheitliches Jugendherbergswerk berichten. Dabei warf ein Generalstäbler die Frage nach einer etwaigen Nutzbarmachung von Kasernen auf. Er hätte darüber nach Berlin berichtet, und ein Jahr später wurden 308 Kasernen in Deutschland zur Mitbenutzung für die Unterkunft von Wandergruppen freigegeben. Wegen der zumeist kostenlosen guten Unterkunft und Beköstigung machten viele Wanderscharen davon gern Gebrauch. Das Friedensdiktat von Versailles untersagte nach verlorenem Weltkrieg alle Unterkünfte in Kasernen. Bei dem nachfolgenden Wiederaufbau unseres JH-Werkes sorgten Freund Münker und ich dafür, dass keine politische Staatsgewalt unser Werk einengte, bis es uns dann 1933 durch den Nazismus mit Gewalt entrissen wurde.
In Villmar
besuchten wir die Marmorwerke, wo die Steinblöcke wie Holzstämme zersägt und poliert werden, und wo alle Türen und Fenster in Marmor gefasst und alle Hausflure und Küchen mit Marmorplatten getäfelt sind. Erinnerung an das westfälische Nutlar-Bestwig, wo Schiefer in gleicher Weise bearbeitet wird.
Niederlage im Kampf mit Krähenscharen
Alle Bilder von der wuchtigen Burgruine Runkel zeigen einen großen Krähenschwarm über ihren unheimlich dicken Türmen. In dem Kiefernforst zwischen Villmar und Runkel haben sie ihre Kolonie. Fast jeder Baum trägt mehrere Nester, die so liederlich gebaut sind, dass man in vielen von unten die Eier sehen kann, und Eierschalen unter den Nesterbäumen erzählen davon, wie geringen Wert diese "Wodansvögel" auf ein einzelnes Ei legen. Zwischen Straße und Lahnfluss auf hoher, steil abstürzender Felsklippe steht das Marmor-Standbild des deutschen Frankenkönigs Konrad I. Sinnend schaut er auf die Krone in seiner Hand, die er um des lieben Reichsfriedens willen seinem glückhafteren Gegner Heinrich ins Sachsenland sandte. In dem sonnig warmen Waldwinkel zu seinen Füßen hielten wir unsere Mittagsrast. Ich hatte alle Buben in den Wald zum Reisigsammeln ausgeschickt, und manche blieben verdächtig lange fort. Schon längere Zeit war das Gekrächze der Krähen immer stärker angewachsen. Wohl hundert und mehr kreisten wild aufgeregt über dem Forst. Und plötzlich stürzten meine Buben mit Reisigbündeln, die sie schützend über die Kopfe hielten, aus dem Wald zum Kochplatz, und der ganze Krähenschwarm über und hinter ihnen her fuhr wütend auf sie herab und bespritzte sie über und über mit stinkendem Kot. Schutzsuchend krochen die Buben in das dichteste Buschwerk am Lahnufer und unter überhängende Felsen. Ich selber konnte nur noch schnell den Deckel auf den Kodikessel decken, um unser Mittagessen vor dem Kotregen zu retten, und musste dann selbst unter den Felssturz flüchten, auf dem der letzte Frankenkönig Wache hält. Da brodelte unser gutes Essen, und niemand wagte es zu holen, weil die wütenden Tiere sind wie eine dichte Wolke mit Gekreisch auf jeden stürzten, der sich aus dem Versteck traute. Erst nach einer halben Stunde konnten wir uns ungestört ans Futtern machen. Aber auf einem anderen Platz, weil der ganze Kochplatz ein einziger Misthaufen war. Und was war die Ursache für diesen Angriff der Krähen auf uns gewesen? Die Jungen hatten die Nesterbäume erklettert und die Nester nach "billigsten Ostereiern" durchsucht. Sofort aber stürzten sich die tapferen Vögel auf die Nesträuber und jagten sie mit Flügelschlägen, Schnabelhieben und Kotspritzen von den Bäumen und weiter in schneller Flucht. Wir bekamen den größten Respekt vor diesen Wodansboten. Auch der Marmorkönig hatte auf Haupt und Krone seinen Teil mitbekommen und schaute redet bedrüppelt auf seine ehemals goldfarbene Krone. Während der Rast entspann sich unter den Buben eine anzügliche Unterhaltung: "Jetzt weiß ich genau, was der Frankenkönig denkt." ,Na, das weiß doch jeder aus der Geschichte.' (Vor der Wanderfahrt hatten wir uns wie üblich nicht nur mit der Landschaft an unseren Wanderwegen, sondern auch nach Möglichkeit mit ihrer Geschichte befasst und wussten auch um den Sinn dieses Denkmals.)- Es fällt ihm schwer sich von dem höchsten Kleinod des Reiches zu trennen! "Ach was! Im Gegenteil, er ist froh, dass er die Krone los wird. Ich glaube, dass an jeder Königskrone nicht nur wackeres Heldentum, sondern auch reichlich viel Unrecht und Sündendreck und bestimmt auch viel Menschenblut klebt. Und das wissen auch die schwarzen "Galgenvögel' von allen Schlachtfeldern her, und darum haben sie auch die Krone so beschissen. Und daran denkt auch der Frankenkönig." - ,Unsinn! Das geht allen Denkmälern so. Ich war im vergangenen Jahre in Berlin und besah mir die vielen Denkmäler in der Siegesallee, und allen hatten die Spatzen was auf den Hut getan.' - "Ich würde mir überhaupt kein Denkmal ohne Hut bauen lassen." - "Wer wird Dir ein Denkmal setzen?' - "Der Hund macht dir 'nen Leichenstein". "Jetzt aber, Jungs, macht Schluss mit euren tiefsinnigen Betrachtungen! Spült das Essgeschirr, und dann wollen wir uns noch mal schnell die Füße baden -- dann auf nach Runkel!" Gesagt, getan. Doch verzögerte sich das Abrücken noch erheblich durch einen üblen Zwischenfall. "Spatz Leonhard" hatte sich in die nackte Fußsohle einen griffeldicken Rohrstengel getreten, der tief im Fleisch steckte, abgebrochen war und nicht herausgezogen werden konnte. Da war guter Rat teuer. Wir setzten uns um unseren "Spatz" in die Runde und kamen zu dem einmütigen Entschluss, dass ich ihn operieren müsse, weil doch kein Arzt aufzutreiben war und der Fuß schon starke Schwellung hatte. Auch "Spatz'' war damit einverstanden.
Ein Junge suchte mir aus der Lahn einen geeigneten Wetzstein, an dem ich mein ohnehin scharfes Fahrtenmesser haarscharf machte. Unser Patient saß dabei und schaute mit einer gewissen Spannung dem Wetzen zu; Doch als ich dann die Schärfe am Durchschneiden eines Haares prüfte und für gut befand, nun die Messerklinge zur Desinfektion schnell einmal durch die Flamme des Lagerfeuers zog, sprang unser "Spatz" wie von der Tarantel gestochen auf und ergriff das Hasenpanier. Alle anderen Jungen hinter ihm her, und bald brachten sie ihn auf den Schultern des Stärksten reitend, zum Platz zurück, und er erklärte sich nochmals mit der unvermeidlichen Operation einverstanden, aber unter der Voraussetzung, dabei brüllen zu dürfen. Immerhin setzten sich drei Jungen zur Vorsicht auf den bäuchlings gelegten "Spatz", und zwei hielten seine langgezogenen Arme an den Handgelenken fest, während an jedes Bein zwei weitere Jungen kamen, und "Spatz" brüllte aus Leibeskräften schon lange, ehe das Messer gebraucht wurde. Mit einem schnellen Schnitt war's dann überstanden und der zwischen zwei Zehen im Fußballen steckende Rohrstengel herausgezogen, das dicke, schwarzverschmutzte Blut aus der Wunde gepresst und diese mehrmals mit Arnikatinktur ausgewaschen und sorgfältig verbunden. Es ging auch alles gut. Nur beim Auswaschen der Wunde mussten noch ein paar Jungen zugreiten, weil der Patient uns dabei doch bald ausgerückt wäre. Leider durfte ich die tief und klaffende Wunde wegen der Verschmutzung nicht vernähen (Wundnadeln und Nähseide im Alkohol Fläschchen befanden sich für derartige Fälle in meinem "Pflasterkasten"). Doch trotz unserer tüchtigen "Klotzerei" eiterte die Wunde nicht und war bei der Heimkehr nahezu verheilt.
Runkel
Beim Durchstöbern der alten Ruine stießen wir auf die dort eingerichtete Mädchen-Haushaltungsschlule. Bei dem sonnigen Wetter saßen die Mädel bei Kaffee und Kuchen im Burghof. Als wir mit einem zackigen Wanderlied mit Geigen- und Lautenspiel stolz vorüberschreiten wollten, versperrte uns plötzlich eine Kette von Mädchen kecklich den Weg, und wir mussten wohl oder übel halten. Die Mädel, die das Lied auch kannten, stimmten mit ein, und das klang viel schöner als unser ,Bardensang". Aus dem Fenster schaute die Anstaltsleiterin, und als ein Mädel, die Tochter des mir bekannten Fabrikanten Seisenschmied aus Neuenrade, zu ihr hinaufrief "Das sind gute Bekannte aus Altena", wurden wir zu bleiben gebeten und saßen schnell in bunter Reihe unter den Mädeln, die' zumeist aus dem Rheinland stammten. Wir ließen uns Kaffee und Kuchen (selbstgekocht und selbstgebacken) gut munden, und zwischendurch wurde gesungen und gescherzt - weniger von meinen westfälischen Buben als von den über- mütigen rheinischen Mädeln. Humpelmann Spatz musste meine Operationsgeschichte erzählen und wurde gleichermaßen belacht und bemitleidet. Doch es musste geschieden werden. Ungezählte Kußhändhen Augen grüßend hinter uns her, und jeder der Buben hatte mehr als ein Adressen-Zettelchen beim Abschied in die Hand gedrückt bekommen - und der "Meester" auch. Was Wunder, dass die Unterhaltung des Tages sich um den "Runkeler Gänsestall" bewegte. Einige wenige wären.war gern länger dort geblieben. Aber die. Mehrzahl war der Überzeugung, dass man sich einen solchen ,Gänsestall" am besten nur übern Zaun ansehen sollte, da man sich aber solche Dinger mit ihrem Geschnatter niemals mit auf Fahrt nehmen dürfte und froh wäre, jetzt wieder unter sich zu sein. -- Bei der nächsten Rast an der Lahn konnte ich beobachten, wie mehrere Jungen ihre erhaltenen Adressen-Zettelchen in den Fluß zu den Fischen schickten.
Limburg - Diez
Der einzig schöne Dom mit seinen Kunstschätzen und das Stammschloß der "Oranier" wurden unter sachkundiger Führung besucht. Ich konnte damals die machtvolle Entwicklung des JH-Werkes nicht voraussehen und somit auch nicht ahnen, dass die Schlossverwaltung zwanzig Jahre später dem Reichsjugendherbergswerk das Schloss kostenlos übereignen wollte, und dass ich nach eingehender Besichtigung zum großen Erstaunen des Spenders zum Verzicht riet, sofern nicht eine Geldspende von hunderttausend Reichsmark sich zur Schlossspende gesellte!
Bad Ems Stammschloß der Freiherren vom und zum Stein, Goethepunkt
In Bad Ems wurde eine Kostprobe der Heilwässer genommen und im Vorüberschreiten auch vom "Kaiser-Wilhelm-Stein" Notiz genommen. Die Ruine des freiherrlichen Schlosses hatte uns mehr zu erzählen. Mit viel Freuden blickten wir vom "Goethepunkt" in die Runde. In der Taltiefe eräugten wir das Arnsteiner Kloster und erinnerten uns an einen Ausspruch des Altwanderers Goethe, daß dieser Berggipfel die schönste Stelle im ganzen Hessenlande sei. Ganz überraschend ist die Ähnlichkeit des "Goethepunktes" mit dem "Klusenberg" im westfälischen Altena, und es wäre eine schwere Entscheidung, welchem Berggipfel die Schönheitspalme zuzusprechen wäre.
Osterbesuch bei Landrat a.D. von Heidweiler
Das Ziel und der Höhepunkt unserer Wanderfahrt auf die wir uns einen ganzen Winter hindurch vorbereitet und gefreut hatten: Der Hausherr mit seiner zahlreichen Familie begrüßte uns auf der prächtigen Empfangsdiele mit größter Herzlichkeit und fast feierlich. In seiner Ansprache betonte er immer wieder seine unbändige Freude, seine ehemaligen Altenaer "Landeskinder" in seinem Hause als Gäste zu wissen. Das Verlobungsfest seiner ältesten Tochter hatte er auf Ostern gelegt und uns auch eigens auf diesen Tag eingeladen, dass wir dieses Fest mitbegehen und verschönern hülfen. An der mit Frühlingsblumen reich geschmückten Festtafel hatte der Platzordner die sechs Hauskinder und die Hausgäste so verteilt, dass jeder meiner Buben einen Hausgast zur Seite hatte, und dieser sorgte für sein leibliches Wohl. Des Hausvater sprach den selbstverfassten Tischsegen, wir reichten uns die Hände und sangen stehend: "Wenn alle Brünnlein fließen". Ein Sohn und eine Tochter des Hauses begleiteten das Lied mit Geige und Flügel. Und dann ging's ans Futtern. Das war ein Festmahl, wie es die ganz stumm gewordenen großen Jungen noch nicht gesehen hatten und wohl auch kaum zum zweiten Mal erlebt haben werden. Da stand vor dem Hausherrn ein gewaltiger knusperbraun gebratener Schweineschinken, und daneben gab's ein Zerlegemesser schier so groß wie ein Türkensäbel. Große Schüsseln mit gebratenem und gekochtem Fisch: Karpfen, Forellen, Hecht und Rheinsalm; Rehkeule und Hasenbraten - schön geflochtene Bastkörbe voll bunter Ostereier - hochgetürmte Teller voll schneeweißem Weizenbrot und schwarzbraunem westfälischen Pumpernickel - und dazwischen Butterballen mit kunstvoll ausgestochenen Blüten- und Blattformen - daneben Tilsiter und Holländer Fettkäse - die guten Kartoffeln nicht zu vergessen, aber nicht als Salzkartoffeln, sondern in Stäbchenform geschnitten und in Butter braun geschmort Frischsalat und Blumenkohl aus dem Treibhaus. Die im allgemeinen nicht leicht einzuschüchternden Jungen bekamen ob all der Tafelherrlichkeiten fast noch größere Augen als in Holzhausen bei der Tag- und Nachtgleiche und saßen anfangs ganz stumm und dumm da. Erst nachdem sie die Fleischbrühe mit Rindermarkklößen hinter sich hatten und' ihre Tischnachbarn auf sie einsprachen, wich die beklemmende Stille allmählich einem fröhlichen Geplauder, und die beiden Hausmädchen in blütenweißen "Serviermänteln" und welligen "Kruschelhäubchen" in den braunen Haaren hatten mit dem Zubereiten der Speisen bei der Tafelrunde von nahezu 40 Personen vollauf zu tun.
Den Koloß von Schweinebraten zersäbelte der Schlossherr mit eigener Faust in große und weniger große Batzen und schaute dann jeden zu bedienenden Tischgast fragend an, tippte dabei mit seinem "Schinkensäbel" auf die gewünschten Bratenscheiben, und als er dabei in gewinnender Herzlichkeit den immer noch etwas schüchternen Buben Mut zusprach und gar erklärte, dass er an diesem doppelten Freudentag des Hauses - Verlobung seiner Tochter und Besuch seiner Altenaer - die grüßte Freude haben würde, wenn alle Schüsseln rutzeputze leergegessen wären, da war das letzte Eis gebrochen, und es begann ein hemmungsloses Futtern bei manchen Jungen wie im Schlaraffenland, und Schlossherr und Schlossfrau schauten mit frohen und gütigen Augen auf die Schmausenden. Als Trinksprüche ausgebracht wurden, versuchte ich in launiger Weise in meinen Dankesworten eine Brücke zu schlagen zwischen dem westfälischen Sprichwort "Eeten un Drinken hölt Liew on Seele besamen" und dem ostpreußischen "Biem Eet lat di nich angst moke. Eet man tau! Platzt de Buk, holt dat Hemd!" Unterm Flügel standen in mehreren Eiskübeln eine Menge Langhalsiger und Dickbäuchiger: Rhein- und Moselwein und auch Champagner. Auf einen Wink des Gastgebers stellten die dienstbaren Geister vor seiner ersten Tischrede vor jeden Gast eine "Langhalsige". Kopfschüttelnd hatte ich die' Batterien unterm Flügel betrachtet und musste dem Hausherrn etwas ins Ohr flüstern: große Bestürzung und Wiegen des Hauptes. Wir kamen aber überein, dass meine Jungmänner auf das Wohl des Brautpaares und unserer Heimatstadt ein Glas Schaumwein trinken durften. Rhein und Mosel verschwanden, dafür sprangen die Sektkorken knallend zur Decke, und meine Buben kosteten zum ersten - und wohl auch letzten Mal den perlenden "Heydsick Monopol". - Nach einem Dankgebet des Hausvaters küsste er der noch redet jugendlich aussehenden Gattin die Hand, und der Bräutigam folgte seinem Beispiel bei Schwiegermutter und Braut. Alle Tischgenossen reichten sich die Hände zum große, Dankeskreis, dann wurde die Tafel schnell abgeräumt. Nach dem Programm des·Festtages, das in Schmuckschrift geschrieben auf jedem Tischplatz lag, folgten ein paar Musikstücke (Klavier und Geige) von Mozart und Haydn, vorgetragen von Mutter und Tochter. Dann öffneten sich die Flügeltüren vom Nebensaal, und ein großer Servierwagen wurde hereingerollt, beladen mit Kuchenbergen und Torten, mit Kästchen voller Orangen, Äpfeln, Weintrauben, Rosinen und süßem Naschwerk -- Kannen mit Kaffee, Tee und Schokolade. Das war die zweite Schmauserei, und ich merkte, wie mancher Junge verstohlen nach dem Leibriemen Angerte.
Und nun ging's bis tief in die Nacht ans Singen und Musizieren. Fahrtengeschrichten wurden erzählt, und der Krähenangriff und Spatzens Operation waren auch dabei. Mit dem gemeinsamen Abendlied "Kein schöner Land" sagten wir uns um Mitternacht "Gute Nacht"
Da das Schloss durch die Verlobungsgäste stark belegt war, hatte man uns im Gasthof des Dorfes untergebracht. Jeder Junge bekam ein weiß bezogenes Federbett, und wir schliefen wie die Grafen bis in den hellen Morgen. Das Frühstück im Schloss war eine weitere Schlemmerei, und für die Wegzehrung wurden uns die Rucksäcke derart vollgestopft, dass wir an den nächsten zwei Tagen alle Mahlzeiten damit bestreiten konnten. Zum Abschied mussten wir uns alle namentlich in das "Goldene Gästebuch" eintragen. Mit einem letzten Abschiedslied ging's zum Schlosspark hinaus. Erst nach und nach fanden wir uns wieder zurecht als "fahrende Gesellen". War uns doch so, als hätten wir leibhaftig in einem Märchen von "1001 Nacht" gesessen.
Wahrhafte Kameradschaft
So unvergesslich schön auch die Gastlichkeit im Schloss auf der Denzer Heide war, so brachte der nächste Tag doch noch uns allen ein tieferes Erleben.
In einem Wirtshaus an der Lahn waren wir eingekehrt und hatten von unseren reichen Rucksackvorräten uns recht sattgegessen. Ehe wir unser Strohlager auf der Kegelbahn aufsuchten, saßen wir noch in einem kleinen Nebenzimmer beisammen. Die Jungen tranken Selterwasser und Limonade, und ich hatte mir einen Schoppen Wein geben lassen und rauchte ein Pfeifchen Tabak. Es war eine unbedachte Ausnahme, die ich mir da leistete, und die Jungen waren darüber eingeschnappt, ohne dass ich es merkte. Anfangs sangen- sie noch mit zu meiner Geige, aber bald machte nur ich allein Musik. Auf meine Frage, ob ihnen Läuse über die Leber gelaufen waren, blieb alles stumm. Als ich dann abermals die gleiche Frage stellte, sprang der älteste und längste der Buben erregt auf, schlug mit der Faust auf den Tisch und sagte: "Ja, ganz dicke Läuse! Und wir müssen es dir einmal richtig sagen; denn du scheinst es nicht zu wissen, was wirkliche Kameradschaft ist. Da sitzt du mit einem Schoppen Wein und sckmökst deine Pfeife, und wir lutschen Limonade. Gilt der Eid auf unserm Fahrtenwimpel denn nur für uns? und nicht auch für dich? Wir sind keine kleinen Jungen mehr. Gleiche Brüder - gleiche Kappen! Schon in Holzhausen war es so, da tranken wir alle Kaffee und du ein Glas Bier."
Auch die anderen Jungen waren zornig aufgefahren, und alles sprach erregt durcheinander. Darüber packte mich ein maßloser Zorn, und auch ich schlug die Faust auf den Tisch, dass die Gläser tanzten, und brüllte sie als undankbares Pack an. Während meine Kollegen sich gemütliche Ferien daheim machen oder auf schöne Reisen gehen, verbringe ich alle meine Ferien mit ihnen auf der Landstraße und im Stroh auf Scheunen und Kegelbahnen - und das sei nun ihr Dank!
Ohne Abendlied und ohne Nachtgruß krochen wir ins Stroh. Ich konnte den Schlaf lange nicht Anden - bis ich mich zu der Erkenntnis durchrang; dass die Jungen in der Tat im Recht waren. Bis zur Mittagsrast am andern Tag schritten wir ziemlich wortkarg nebeneinander. Wohl war ich zur Einsicht gekommen. Aber das Eingeständnis mit den Worten zu machen, war nicht ganz leicht. Doch mittags, während das Feuer lohte und die Erbsensuppe brodelte und wir uns zum Futterkreis setzten, war's so weit. Keine langatmige Ansprache: "Jungs, mal herhören. War das gestern Abend nicht eine ganz saudumme Geschichte? - Aber ich war im Unrecht und ihr im Recht! Schwamm drüber!" - Dann aber war alles wieder gut. Und erst von da ab waren wir als Führer und Gefolgschaft wahrhafte Kameraden und sind es allezeit geblieben.